Disclaimer: Dieser Artikel enthält Spoiler für das Spiel Furi (erhältlich für PC, PlayStation 4, Xbox One und Nintendo Switch). Wer es noch nicht kennt, kann ja mal versuchen, es vor der Lektüre durchzuspielen. Ich wünsche viel Erfolg! Ansonsten behaupte ich, dass sich ein Durchspielen auch nach der Lektüre noch lohnt. Es bleibt hier vieles unerwähnt.
Furi ist ein Spiel über die Freiheit. Wo beginnt ein Spiel über die Freiheit? Natürlich: im Knast. Genauer: einem futuristischen Hochsicherheitsgefängnis. Der Wärter, ein vielgesichtiger Schläger und Träger japanischer Theatermasken, wacht über den Eingang zum Spiel. Und eine Erkenntnis prügelt er sogleich in uns hinein: Jedes seiner drei Gesichter steht für den Tod. Den Tod hätten früher WIR gebracht, sagt er. Wir seien eine Waffe gewesen. Jetzt hätten wir nur noch den eigenen Tod vor uns – immer wieder, in alle Ewigkeit. Doch so vielgesichtig wie der Wärter ist bei Furi vieles. Alles eine Frage der Perspektive. Wir? Eine tödliche Waffe? Schon zu Beginn des Spiels klaffen das Wissen der Figur und des*der Spielenden drastisch auseinander. Wir wissen nicht, wer wir sind oder warum wir hier sind. Eine tödliche Waffe? Wir? Dann spricht eine Stimme zu uns: „Befrei dich!“ Oh, zu der Stimme gibt es auch ein Gesicht. Es ist ein… pinkfarbener Hase – und er öffnet unsere Fesseln! Die tödliche Waffe ist frei, WIR sind frei und können uns rächen für die Folter der Haft!
Dann finden wir uns im Kampf gegen den Wärter wieder. Die cineastische Anfangssequenz ist vorbei. Das Spiel schaltet um in die nüchterne Vogelperspektive. Jetzt also der Einstieg ins Spiel, der einem die Mechaniken beibringen soll und gemeinhin „Tutorial“ genannt wird. Die Mechaniken sind übersichtlich. Wir können rennen, schießen, schlagen, ausweichen und parieren. Letzteres steht uns als tödlicher Waffe natürlich besonders gut: die Angriffe des Gegners vereiteln und ihn mit aller Gewalt eines Space-Samurai (ach ja: wir sind ein Space-Samurai. Mit Katana und allem) für das getane Unrecht bestrafen.
Jetzt ich: Grade im Spiel, die (hervorragende) Musik treibt mich an. Die Mechaniken wirken vertraut, die tödliche Waffe kommt gut rein ins Gefecht, die ersten Kampfphasen des Wärters sind geschafft. Ich Naturtalent ich! Den zahlreichen Geschossen wird ausgewichen, die Schläge werden (meistens) pariert, dann der Gegenangriff. Ich bin so weit. Jetzt bitte den ersten richtigen Gegner. Oh nein, der hat ja doch ein paar Tricks mehr. Mist – da habe ich das Timing noch nicht ganz raus. Puuh, der Kampf zieht sich ja doch etwas hin. Sich so lange zu konzentrieren, bin ich ja kaum noch gewohnt… tot. Da war ich wohl etwas überrumpelt. SCHNITT.
Fünfter Versuch des Tutorialbosses. Okay: Die tödliche Waffe hatte wohl etwas Rost angesetzt. Die letzten zwei Phasen machen Probleme. Die treibenden Beats verspotten mich. Ich scheitere wiederholt am ersten Gegner. Bin ich zu alt geworden für Spiele dieser Art? SCHNITT.
Es ist vollbracht. Aufwärmrunde erfolgreich absolviert, das Spiel gewährt mir Zutritt zu seinen eigentlichen Herausforderungen und den weiteren Wärtern, die zwischen uns und der wahren Freiheit stehen. Weder bei diesem ersten Kampf noch danach wird meine Figur etwas dazulernen. ICH muss besser werden. ICH muss dem Rhythmus der Musik gerecht werden. ICH muss zur tödlichen Waffe werden… und der pinke Hase muss mir erklären, was es mit all dem auf sich hat. Für heute Abend bin ich fertig. Das war anstrengender als erwartet – wenigstens bin ich cool geblieben und habe mich nicht aus der Ruhe bringen lassen (OHGOTTOGOTTDASWARERSTDASTUTORIALWOSOLLDASBLOSSHINFÜHRENOGOTTOGOTT). Jetzt legt sich die tödliche Waffe erst einmal hin und sammelt ihre Kräfte. Morgen sieht die Welt wieder anders aus. SCHNITT.
Die Welt sah nicht anders aus. Schließlich besteht das Spiel nicht wie die meisten aus mehr oder weniger harmlosen Levels, die dann irgendwann in fordernden Endgegnern kulminieren. Hier gibt es ausschließlich Endgegner. Die rhythmischen Tänze mit den Wächtern unseres Gefängnisses unterbricht das Spiel mit ruhigen Passagen, in denen wir zur nächsten Herausforderung schlendern. Dabei lassen wir uns vom Hasen auf den nächsten Kampf vorbereiten. Hier entspannt sich die Musik und wird sphärisch. Doch im Kern sind die Ruhephasen viel chaotischer als die Kämpfe. Zwar verlangen uns die Pausen koordinativ nichts mehr ab, dafür fordern sie uns perspektivisch umso mehr. Gäbe es die automatisierte Steuerung dieser Zwischenpassagen nicht, hätte ich den Weg bisweilen kaum gefunden – zu unübersichtlich, zu schwer einsehbar das Gelände des in der Luft schwebenden Gefängnisses, zu erratisch die Perspektiven. Psychisch verunsichert uns das Spiel nun dort, wo es uns körperliche Sicherheit bietet. Die Belohnung unserer Siege: kein Aufstieg, keine Verbesserung unseres mysteriösen Avatars, nur mehr Unfreiheit. In den Arenen der Kämpfe dürfen wir entscheiden, was wir tun, dazwischen sind wir unfrei und verwirrt. Wir lernen: Nur im Kampf sind wir souverän. Perspektivisch eingeschränkt, aber souverän. Sobald wir nach Gründen forschen, sind wir orientierungslos und verloren.
Dann passiert es. Wir werden besser. Die Gegner verlieren zuverlässig ihren anfänglichen Schrecken. Am Anfang jeder Auseinandersetzung steht noch die Hoffnungslosigkeit, aber jeder Tod (am Ende wird es eine mittelhohe dreistellige Zahl sein) lässt uns stärker zurückkehren. Irgendwann sitzen die Tanzschritte. Wir weichen aus, laden aus der Deckung unsere Blasterschüsse auf, landen verheerende Treffer mit unserem Katana. Jeder Gegner fordert unterschiedliche Bereiche unserer Fähigkeiten. Bald beherrschen wir sie alle. Zusammen mit unseren Fähigkeiten wachsen allerdings auch die Zweifel an den Konsequenzen unseres Tuns: Hier töten wir einen Widersacher vor den Augen seines Sohnes. Dort bietet uns eine Gegnerin an, auf das Kämpfen ganz zu verzichten und bei ihr – in einem überraschend idyllischen Teil des Gefängnisses – zu bleiben. Wir aber wollen die Freiheit und ihren Tod. Für Mitleid ist kein Platz. Zu beschwerlich ist der Weg und zu groß die Erleichterung, die sich irgendwann nach unzähligen Niederlagen im Mord des Gegners entlädt.
Nun stehen wir einem Schwertmeister gegenüber. Er ist so schnell wie wir, er hat ähnliche Fähigkeiten. Jetzt wird es ganz deutlich: Wir befinden uns im Kampf gegen uns selbst. Den Gegner zu attackieren, ist zwecklos. Er zwingt uns dazu, seine Attacken zu parieren. Wir werden ganz Reaktion. Wir greifen nicht an, wir bestrafen nur noch die Hiebe des Gegners. Der Gegner spricht. Er sagt: „Excellence is not an art, it’s pure habit. We are what we repeatedly do.“ Die Stärke des Spiels ist seine Interaktivität. Die Identität des Spielenden liegt in der Tat. Ja, unsere Überlegenheit liegt in der Wiederholung, in der Verbesserung durch Wiederholung. Der Gegner redet mit uns wie der Meister mit dem Schüler. Der Meister sagt: „Come on, give me something memorable. Something I can learn from, that will make me better.“ Doch eben das haben wir unserem Gegner voraus. Wir lernen aus der Niederlage, er ist auf seinem Leistungsstand für immer eingefroren. Unsere Stärke als Spielende*r und als Mensch ist die Beharrlichkeit angesichts einer scheinbar übermenschlichen Herausforderung. Jetzt haben wir keine Angst mehr vor unseren Gegnern. Jetzt tun sie uns Leid. Schließlich bezwingen wir alle. Am Ende sind wir übermächtig. Die Letzte, die sich uns entgegenstellt, ist keine Herausforderung mehr. Wir selbst sind die Herausforderung geworden. Ein Endgegner mit schlechtem Gewissen. Jetzt, ganz am Ende, erleben wir die Freiheit. Zum ersten Mal bestimmen WIR die Perspektive, erlaubt uns das Spiel, frei zu wählen, wohin wir gehen und wohin wir schauen. Jetzt erkennen wir mit Schrecken, dass wir – ausgerüstet mit der göttlichen Fähigkeit, nie aufzugeben – Verderben gebracht haben, wohin wir gingen. Jetzt haben wir die Freiheit, uns selbst zu sehen als das, was wir sind: eine tödliche Waffe.
Doch vielleicht ist das nicht das Ende. Vielleicht haben wir nunmehr die Macht erlangt, uns zu ändern. Vielleicht haben wir uns die Fähigkeit erkämpft, die eigene Unveränderlichkeit anzuzweifeln. Der Meister sagt: „Du bist stärker, als du denkst. Gemeinsam stehen wir das hier durch.“