Ein wunderschöner Tag im antiken Griechenland. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, auf der Straße sitzt ein Mann Namens Äsop und spielt inmitten einer Gruppe von Kindern mit Nüssen (die antike Version von Murmeln). So oder so ähnlich beginnt eine lateinische Fabel aus dem ersten Jahrhundert. Da kommt ein gebildeter Grieche aus Athen vorbei und lacht ihn aus. Äsop antwortet mit einer Metapher: Er legt einen Bogen vor dem Athener auf die Straße und sagt (sinngemäß): „Wenn du den Bogen immer gespannt hältst, bricht er; entspannst du ihn, nützt er dir, wenn du ihn brauchst. So musst du auch dem Verstand zum Spielen geben, damit er dir zum Denken zur Verfügung steht.“
Die Fabel ist auf den ersten Blick recht modern. Immerhin verteidigt sie mit dem Spielen eine sehr alte, aber schlecht angesehene Tätigkeit. Spielen ist etwas für Kinder, ist eine Tätigkeit, die nur in der (im besten Fall) sorglosen Kinderwelt eine Berechtigung hat. Dort beflügelt sie die Fantasie, lässt unfertige Menschen in der Sicherheit des Spiels die Rollen ihrer fertigen Versionen erproben und sich ohne Angst vor Konsequenzen im Leben versuchen. Wenn Erwachsene spielen, verschwenden sie ihre Zeit. Der Athener ist noch drastischer: Er hält den spielenden Äsop für verrückt.
Diese antike Szene ist geradezu prophetisch für die moderne Debatte um den Wert des Videospiels, die vom gewaltverherrlichenden und Gewalt erzeugenden Medium über Zeitverschwendung bis hin zur Kunstform reicht. Wenn sich der Vorwurf ans Spielen zumindest in Teilen mit dem Diskurs unserer Zeit deckt, dann finden wir vielleicht auch eine Antwort auf derlei Vorwürfe in der antiken Fabel. Äsop argumentiert: Der Verstand braucht – wie der Bogen – Entspannungsphasen, um richtig zu funktionieren. Diese Pausen liefert das Spiel. Auf den ersten Blick scheint Äsops Verteidigung des Spiels also die Verteidigung eines Eskapismus zu sein: Der eigentliche Wert liegt nicht im Spiel selbst, sondern in der Zerstreuung, die es bietet. Damit liefert die Fabel auf der Oberfläche ein Argument, das auch nach den Maßstäben unserer Gesellschaft, die auf Effizienz und Leistung aus ist, überzeugen könnte: Spielen ist produktivitätssteigernd! So legitimiert man vermeintlich sinnlose Tätigkeiten, die Spaß machen. Von Kunst wären Videospiele dann allerdings noch weit entfernt.
Tatsächlich aber kann das Spiel mehr. Indem Äsop erst durch das Spiel den Spott des Atheners auf sich zieht, wird die Tätigkeit des Spielens aufgewertet. Sie ist nicht mehr nur Mittel zur Zerstreuung, sondern wird zum Auslöser der Begegnung zwischen den beiden Figuren. Die Funktion des Spiels geht in dem Moment über die unmittelbare Funktion der Zertreuung hinaus, wenn es zum Auslöser der Erklärung des weisen Äsop wird. Hätte der sich nicht mit dem Spiel beschäftigt, wäre es nicht zum Konflikt mit dem Athener gekommen und dieser wäre nicht über das Wesen des menschlichen Verstandes aufgeklärt worden. In seiner mittelbaren Funktion ist das Spiel also sinnstiftend, denn es wird zum Aufhänger einer universellen menschlichen Wahrheit. Das Spiel löst etwas aus. Wie in allen modernen Unterhaltungsmedien liegen Sinn und Unsinn, Zerstreuung und Kunst also auch beim Videospiel dicht beieinander. Wie in der fiktionalen Literatur zeigt sich die Unterhaltung auf der Oberfläche, in der Tiefe liegt der Sinn. Äsop scheint schon damals verstanden zu haben, dass sich diese Gegensätze nicht ausschließen, sondern unterschiedliche Pole derselben Sache sind. Analog begegnet der Athener dem Murmelspiel wie viele moderne Kritiker den Unterhaltungsmedien. Nach dem Historiker und Soziologen Hasso Spode erzeugt „jede grundlegende technische Veränderung in der Produktion von Fiktionalität […] – sobald ihre soziale Verbreitung beobachtet wird – Abwehrreaktionen bei den Besitzern des nun von Entwertung bedrohten kulturellen Kapitals.“ Auch Büchern wurde als fiktionalem Medium einst so begegnet, wie der Athener dem Murmelspiel gegenübertritt, weil er sein kulturelles Kapital bedroht sieht. Es bleibt zu hoffen, dass in Zukunft mehr Menschen das Spiel sehen können wie der weise Äsop.