Der Jazztrompeter Miles Davis hat einmal gesagt: „If you don’t know what to play, play nothing.“ Im Jazz ist es also nicht anders als im Gespräch: Wenn du keine Ahnung hast, einfach mal die Klappe halten. Man kann Miles Davis vieles nachsagen, aber beim Trompetenspiel wie im Gespräch gibt es kaum jemanden, der die Pause so zelebriert hat wie er. Überhaupt ist die Pause in der Musik genauso wichtig wie die Note, denn sie gibt ihr ihre Identität. Ohne Pause kein Rhythmus, ohne Rhythmus keine Musik. Das Nichts ist ein essenzieller Teil der Kunst.
Die Literaturwissenschaft hat vor einer ganzen Weile bemerkt, dass wir, wenn wir lesen, permanent Informationen ergänzen, die der Text uns nicht liefert. Diese Leerstellen reichen von äußerlichen Details der Figuren und alltäglichen Nichtigkeiten bis hin zu integralen Bestandteilen der Handlung, die unerwähnt bleiben. Im ersten Fall ist das Füllen der Leerstelle kaum mehr als ein rezeptiver Automatismus: Wir müssen nicht zweifelsfrei wissen, dass der Protagonist eine Hose trägt, um annehmen zu können, dass er es tut. Leerstellen dieser Kategorie gibt es permanent und überall in der Literatur. Letztlich fallen die meisten Kapitelenden mit Leerstellen zusammen, nach denen mit einiger Sicherheit irgendetwas, aber eben Unwichtiges passiert. Doch wenn uns wichtige Informationen – also solche, die auf das Verständnis und die Deutung des Textes Einfluss haben – vorenthalten werden, ist die Kohärenz gefährdet; die Unbestimmtheit des Textes nimmt übermäßig zu, bis er sich dem Verständnis und schließlich einer Deutung ganz entzieht.
In visuellen Medien wie dem Film sind Leerstellen etwas anders gelagert. Äußerlichkeiten wie die Kleidung der Figuren und Details der Umgebung werden hier sichtbar gemacht. Das Innenleben der Figuren – vor allem das des*der Protagonist*in – muss dagegen mit einigem Aufwand von zum Teil sehr gut bezahlten Ex-Kellnern aus Amerika (sog. „Schauspielern“) transportiert werden. Für beide Medien – Roman und Film – gilt allerdings: Ist die Leerstelle zu groß und werden für die Geschichte wichtige Informationen nicht geliefert, ist sie auf der grundlegenden Ebene der Handlung gestört und funktioniert kaum noch.
Hier hat das Medium des Videospiels einen riesigen unique selling point (sog. „Alleinstellungsmerkmal“), den es aber nur zu selten ausspielt. Das Videospiel orientiert sich in Ästhetik und Narration seit seinen Anfängen vielfach am Film. Mit dem technischen Fortschritt und der Erfindung gerenderter Zwischensequenzen fanden dann genuin cineastische Elemente in das Medium. Heutzutage scheint das Prädikat „cineastisch“ immer noch ein Positives zu sein, wenn Videospiele damit bedacht werden. Ich will nicht gegen den Wert von Zwischensequenzen argumentieren, aber ihnen geht nun mal die zentrale Eigenschaft des Videospiels ab: die der Interaktivität. Dass wir mit dem Medium interagieren und Einfluss auf die erzählte Welt nehmen können, ist doch das Besondere an ihm.
Diese Eigenschaft ist, was die Leerstelle im Videospiel zu so einem mächtigen Mittel werden lässt. Denn im Spiel lässt sich die Handlung durch den Spieler vorantreiben. Im Extrem verschwimmt dann die Grenze zwischen Rezipient*in und Produzent*in: Der*die Spielende treibt die Handlung nicht nur voran, er*sie bestimmt sie fast vollständig. Die Handlung der Geschichte und die Handlungen des*der Rezipient*in werden deckungsgleich. Lücken, die in der Narration gelassen werden – Teile der eigentlichen Handlung – lassen sich spielmechanisch, also interaktiv, füllen. Ein Beispiel für dieses Prinzip – diese Rückbesinnung auf die Interaktivität des Mediums – findet man in den jüngeren Titeln (genauer: fast allen Veröffentlichungen seit 2009) des Entwicklers From Software. Im gesamten Spiel Dark Souls (2011) gibt es nur eine Handvoll Zwischensequenzen. Das Intro liefert bestenfalls ein paar Eckdaten dazu, wo sich die Spielfigur am Anfang befindet. Zwar erzählt die Einleitung eine Handlung, doch die scheint eine unbestimmbar lange Zeit vor dem Jetzt des Spiels stattgefunden zu haben. Da wird von mächtigen Wesen erzählt, die gottähnliche Drachen herausfordern und neue Zeitalter einläuten. Es wird von der Entstehung der Dunkelheit und des Feuers berichtet. Aha. Die Parallelen zu Stoffen der westlichen Mythologie wie dem Sturz der Titanen durch die Götter im griechischen Mythos verstärken diesen Eindruck einer Vorvergangenheit noch, helfen aber nicht eben beim Verständnis.
Nach der Anfangssequenz finden wir uns in einer Zelle wieder. Untot seien wir und wie alle Untoten ins Nirgendwo verbannt, wo wir das Ende der Welt erwarten. Doch eine hoffnungsvolle Prophezeiung deutet an, dass wir für Großes bestimmt sind. Spielt man Dark Souls zum ersten Mal, dürfte man zu Beginn kaum mehr über die eigene Lage wissen. Wir verstehen über weite Teile nicht, was gerade passiert. Es gibt auch kaum andere Figuren, die daran etwas ändern: So wenig, wie sich die Welt auf uns als Spielende einstellt, so wenig ist den anderen Figuren daran gelegen, uns aufzuklären. Sie selbst wissen dafür ohnehin zu wenig. Nur von einem betrübten (und äußerst unfreundlichen) Ritter wird uns erzählt, es gelte ein paar Glocken zu läuten, um die Prophezeiung zu erfüllen. Aha, aha. Glöckchen läuten also. So weit, so kryptisch.
Die einzigen Figuren, die wirklich zu wissen scheinen, was die Welt von Dark Souls im Innersten zusammenhält – zwei weltenschlangenartige Wesen – widersprechen sich und bleiben unzuverlässig. Möglicherweise lügen beide sogar vorsätzlich. Nein, auf der Oberfläche erzählt Dark Souls keine mitreißende Geschichte, sondern bleibt bewusst vage. In der Gegenwart des Spiels sind wir also ahnungslos. Doch wir sind auch frei. Uns sind von Anfang an kaum Grenzen gesetzt in dieser Welt, die gerade in ihrer Unwirtlichkeit, eben darin, dass sie sich uns zunächst entzieht, so glaubwürdig wirkt. Wir müssen ihr die Geheimnisse aktiv entreißen. Sie gibt sie uns nicht bereitwillig. Auch die Leere der Handlung füllen letztlich wir als Spieler. Unsere Taten und Entscheidungen bilden den Kern des Plots. Wir werden zum Autor unseres eigenen, überaus mitreißenden Narrativs; die Leerstelle ist zum ästhetischen und integralen Teil der Erzählung geworden. Dark Souls bietet uns lediglich eine Landschaft, in der wir unsere Figur bewegen. Damit die Spielmechanik die Leerstelle der Handlung füllen kann, ist diese Landschaft allerdings reich ausstaffiert. Die narrative Qualität von Dark Souls liegt darin, dass wir am Bild dieser Landschaft kratzen können, wo wir wollen: Nie fällt uns der Putz entgegen und bricht die Illusion. Nie lässt uns das Spiel im Stich, wenn wir auf der Suche nach Geschichten sind. Es zeigt uns nur immer mehr Wege, die uns tiefer in seine Welt führen.